116 DACHKASKADE *

 

116.0

... das folgende Muster ergänzt den GEBÄUDEKOMPLEX (95), ANZAHL DER STOCKWERKE (96), HAUPTGEBÄUDE (99) und GEBÄUDEFLÜGEL MIT TAGESLICHT (107); es kann auch zum Erzeugen dieser Muster herangezogen werden. Zu Beginn eines Entwurfs haben diese größeren Muster schon bei der Entscheidung geholfen, wie hoch die Gebäude sind; sie haben eine ungefähre Anlage der Gebäudeflügel geliefert, mit einer Vorstellung, wie die Räume sich in den einzelnen Stockwerken verteilen. Jetzt kommt die Stufe, wo man sich das Gebäude als Volumen visualisieren muß — und das heißt vor allem: als ein System von Dächern. 

 

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Kaum ein Gebäude kann konstruktiv und sozial intakt sein, wenn die Geschosse sich gegen die Enden der Gebäudeflügel nicht abtreppen und das Dach nicht dementsprechend eine Kaskade bildet.

 

Es ist dies ein merkwürdiges Muster. Mehrere Probleme aus völlig verschiedenen Sphären weisen in dieselbe Richtung; es gibt aber keine einleuchtende Verbindung zwischen diesen verschiedenen Problemen. Es ist uns nicht gelungen, jenen Kern, der den Angelpunkt des Musters bildet, zu erfassen.

Zunächst machen wir die Beobachtung, daß viele schöne Gebäude die Form einer Kaskade haben: eine Anhäufung von Flügeln, niedrigeren Flügeln, kleineren Räumen und Vordächern, oft mit einem einzelnen hohen Mittelpunkt. Die Hagia Sophia, die norwegischen Stabkirchen oder Palladios Villen sind imponierende und prächtige Beispiele. Bescheidenere sind kleine, informelle Gebäudekomplexe oder Gruppen von Lehmhütten.

Was ist es, das die abgestufte Gestalt dieser Gebäude so vernünftig und richtig erscheinen läßt?

Zunächst hat diese Form eine soziale Bedeutung. Die größten Versammlungsräume mit den höchsten Decken liegen in der Mitte, weil sie soziale Aktivitätszentren sind; kleinere Gruppen, einzelne Zimmer und Nischen kommen natürlicherweise mehr am Rand zu liegen.

 

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Hagia Sophia.

 

Zweitens hat die Form eine konstruktive Bedeutung. Gebäude bestehen meist aus Baustoffen, die vorwiegend druckfest sind; Druckfestigkeit ist billiger als Zug- oder Biegefestigkeit. Jedes Gebäude, in dem reine Druckspannungen herrschen, nimmt tendenziell den Gesamtumriß einer umgekehrten Kettenlinie an — ANORDNUNG DER DÄCHER (209). Hat ein Gebäude diese Form, wirkt jeder außenhegende Raum als Abstrebung für höherliegende Räume. Das Gebäude ist in gleicher Weise stabil wie ein Erdhaufen, der die Linie des geringsten Widerstandes angenommen hat.

Drittens gibt es auch eine praktische Überlegung. Wir werden später noch darauf kommen, däß DACHGÄRTEN (118) nie über dem obersten Geschoß liegen sollten, sondern immer auf der Ebene der Räume, zu denen sie gehören. Daraus folgt natürlich, daß das Gebäude nach außen immer niedriger wird, da die Dachgärten sich von oben her gegen die Außenkante des Erdgeschosses abtreppen müssen.

 

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Eine Skizze von Frank Lloyd Wright.

 

Wieso führen diese drei offensichtlich verschiedenen Probleme zum gleichen Muster? Wir wissen es nicht. Wir vermuten aber, aber, daß hinter der offensichtlichen Übereinstimmung tieferer Kern liegt. Wir lassen das Muster ohne weitere Analyse stehen und hoffen, daß jemand anderer seine Bedeutung erklären wird.

Zuletzt eine Bemerkung zur Anwendung des Musters. Bei der Gliederung großer Gebäude muß man darauf achten, daß die Kaskade nicht den GEBÄUDEFLÜGELN MIT TAGESLICHT (107) widerspricht. Wenn man sich die Kaskade pyramidenförmig vorstellt, ist bei einem großen Gebäude die innere Mitte vorn Tageslicht abgeschnitten. Durch die richtige Synthese von Kaskaden und Gebäudeflügeln mit Tageslicht wird dagegen ein Gebäude entstehen, das entlang relativ schmaler Flügel abfällt. Diese Flügel können die Richtung wechseln und nach Bedarf niedriger werden.

 

Daraus folgt:

Stell dir das ganze Gebäude oder den Gebäudekomplex als ein System von Dächern vor.

Leg die größten, höchsten und breitesten Dächer über jene Gebäudeteile, die die wichtigsten sind; beim Austeilen der einzelnen Dächer kann man später alle kleineren Dächer von diesen großen abfallend anlegen und ein stabiles, sich selbst aussteifendes System bilden, das sich mit der Hierarchie der darunterliegenden sozialen Räume deckt.

Eine Muster Sprache 116 DACHKASKADE 1

 

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Kombiniere die Dächer aus steilen Satteldächern oder Kuppeln und aus flachen Formen - SCHÜTZENDES DACH (117), DACHGARTEN (118). Leg kleine Räume an die Außenseite und an die Enden von Flügeln, große Räume dagegen in die Mitte - VERSCHIEDENE RAUMHÖHEN (190). Wenn der Grundriß später genauer bestimmt ist, kann man auch die Dächer genauer austeilen, sodaß die Kaskade sich den einzelnen Räumen anpaßt; in diesem Stadium wird die Kaskade ihre wichtige konstruktive Wirkung entfalten - DIE KONSTRUKTION FOLGT DEN SOZIALEN RÄUMEN (205), ANORDNUNG DER DÄCHER (209) ...

 

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