66 GEHEILIGTER BODEN *
... wir haben die Erfordernisse eines kompletten Lebenszyklus und der rituellen Übergänge zwischen den Stufen dieses Zyklus beschrieben — LEBENSZYKLUS (26); wir haben auch empfohlen, daß bestimmte Abschnitte des Bodens wegen ihrer besonderen Rolle und Bedeutung ausgespart werden sollten — HEILIGE STÄTTEN (24). Das folgende Muster beschreibt im Detail die räumliche Gliederung rund um solche Orte. Diese Gliederung ist so wirksam, daß sie bis zu einem gewissen Grad selbst die Heiligkeit solcher Stätten erzeugen und vielleicht sogar das langsame Entstehen von Riten fördern kann.
❖ ❖ ❖
Was ist eine Kirche oder ein Tempel? Natürlich ein Ort der Anbetung, des Geistes, der Kontemplation; aber vor allem ist es — für den einzelnen Menschen — ein Durchgang. Ein Mensch kommt in die Welt durch die Kirche. Er verläßt sie durch die Kirche. Und er überschreitet jede wichtige Schwelle seines Lebens wieder in der Kirche.
Die Geburt, Geschlechtsreife, Heirat und Tod begleitenden Riten sind grundlegend für die menschliche Entwicklung. Wenn diese Riten nicht das erforderliche emotionale Gewicht erhalten, kann ein Mann oder eine Frau nicht gründlich von einer Lebensstufe zur anderen weitergehen.
In allen traditionellen Gesellschaften, wo diese Riten eine nachdrückliche und respektierte Rolle spielen, beruhen sie in der einen oder anderen Form auf Elementen der baulichen Umwelt, die den Charakter von Durchgängen haben. Sicher kann ein Tor oder ein Durchgang nicht aus sich selbst einen Ritus erzeugen. Aber man kann sagen, daß die Riten nicht in einer Umwelt entstehen können, die sie ausdrücklich ignoriert oder trivialisiert. Ein Krankenhaus ist kein Ort für eine Taufe; in einem Beerdigungsinstitut kann man unmöglich die Bedeutung eines Begräbnisses empfinden.
Funktionell ausgedrückt, ist es wesentlich, daß jede Person Gelegenheit hat, mit ihren Genossen in eine soziale Beziehung zu treten, wenn sie oder ihre Freunde durch diese kritischen Punkte ihres Lebens gehen. Und diese soziale Beziehung braucht zu dieser bestimmten Zeit die Verwurzelung an einem bestimmten Ort, der für diese Ereignisse eine Art von geistigem Durchgang darstellt.
Welche bauliche Form oder Organisation muß dieser „Durchgang" haben, um die Riten des Übergangs tragen zu können und jene Feierlichkeit, jenes Gefühl der Erdverbundenheit entstehen zu lassen, das den Riten ihre Bedeutung verleiht.
Natürlich wird das von Kultur zu Kultur in den Einzelheiten variieren. Was immer genau als geheiligt angesehen wird - sei es Natur, Gott, ein besonderer Ort, ein Geist, Reliquien, die Erde selbst oder eine Idee -, es nimmt in verschiedenen Kulturen verschiedene Formen an und muß von verschiedenen baulichen Umwelten getragen werden.
Wir glauben aber, daß ein grundlegendes Merkmal von Kultur zu Kultur unverändert bleibt. Es scheint, daß das Heilige, was immer es ist, nur als heilig empfunden wird, wenn es schwer zu erreichen ist, wenn es Schichten des Zugangs erfordert, Wartezeiten, Ebenen der Annäherung, allmähliches Enthüllen, allmähliches Offenbaren, Durchgang durch eine Reihe von Orten. Es gibt viele Beispiele dafür: die Verbotene Stadt in Peking; die Tatsache, daß jeder, der vom Papst in Audienz empfangen wird, in jedem der sieben Wartezimmer warten muß; die aztekischen Stufenpyramiden, auf denen die Opfer stattfanden, jede Stufe näher dem Opfer; der Iseschrein, der berühmteste Schrein in Japan - ein Netz von Bezirken, jeder innerhalb des anderen.
Selbst in einer normalen christlichen Kirche geht man zuerst durch den Kirchhof, dann durch das Schiff; dann, bei besonderen Anlässen, zum Chor hinter dem Altargitter, und nur der Priester selbst darf zum Tabernakel. Die Hostie ist durch fünf Schichten, deren Zugang immer schwieriger wird, abgeschirmt.
Diese Schichtung oder Schachtelung von Bezirken entspricht anscheinend einem grundlegenden Aspekt menschlicher Psychologie. Nach unserer Meinung braucht jede Gemeinschaft, unabhängig von ihrem besonderen Glauben, unabhängig davon, ob sie überhaupt einen Glauben in einem organisierten Sinne hat, einen Ort, wo dieses Gefühl eines langsamen, gestaffelten Zugangs durch Tore zu einem heiligen Zentrum erlebt werden kann. Wenn ein solcher Ort existiert, auch wenn er nicht mit einer bestimmten Religion verbunden ist, wird nach unserer Meinung das Gefühl der Heiligkeit in der einen oder anderen Form unter den Menschen, die diese Erfahrung teilen, allmählich erwachen.
Daraus folgt:
Zeichne in jeder Gemeinde und Nachbarschaft eine bestimmte heilige Stätte als geweihten Boden aus. Bilde eine Reihe ineinander verschachtelter Bezirke, jeder durch einen Durchgang markiert, jeder in der Folge intimer und heiliger als der vorangegangene, der innerste als letztes Heiligtum, das nur erreicht werden kann, indem man alle äußeren durchschritten hat.
❖ ❖ ❖
Bau ein Tor an jeder Schwelle zwischen Bezirken - HAUPTTORE (53); bei jedem Tor eine Stelle, wo man innehalten und einen Blick weiter nach innen werfen kann - DIE AUSSICHT DES MÖNCHS (134); und im innersten Heiligtum etwas sehr Stilles, etwas, das inspirieren kann - vielleicht eine Aussicht oder bloß ein einfacher Baum oder Teich - TEICHE UND BÄCHE (64), PLÄTZE UNTER BÄUMEN (171) ...
< Zurück zu 65 | Weiter zu 67 > |